Offener Brief
von Antidiskriminierungs-Berater*innen aus NRW
an die Landesregierung NRW
zur Ungleichbehandlung fliehender und geflüchteter Menschen
und dem ihr zugrunde liegenden Rassismus
stellen Sie sich vor, Sie sind Berater*in in einer Beratungsstelle, in der Menschen zu ihrem Asylverfahren oder zu Diskriminierung beraten werden. Sie sitzen vor einem Menschen, der nach Deutschland flüchtete und den Sie bereits seit mehreren Jahren kennen. Dieser Mensch kämpft, denn er möchte arbeiten, möchte in eine Wohnung ziehen, möchte sich ein Leben aufbauen. Das wird ihm seit Jahren verwehrt. Er sitzt in einer Unterkunft, die er nicht sein Zuhause nennen kann, er kann seine Familie oft nicht erreichen, er darf nicht arbeiten, denn es ist verboten, und bei Behörden und Ämtern erfährt er nicht nur bürokratische Zurückweisung, sondern nicht selten auch Rassismus. Er war sich so sicher gewesen, dass Deutschland besser ist. – Nun sieht er, wie Menschen aus der Ukraine fliehen. Genau wie er damals aus Afghanistan. Er sieht, wie sie unmittelbar eine Arbeitserlaubnis bekommen, in Wohnungen ziehen dürfen, ihre Universitätsabschlüsse anerkannt werden, ihre Kinder in die Schule schicken können und wie stark sich die Politik solidarisiert. Er sitzt vor Ihnen und fragt: „Warum werden wir nicht auch so behandelt? Warum gelten für uns andere Regeln? Sind wir nicht genauso Menschen?“ – Sie sitzen vor ihm, sollen ihn beraten. Was antworten Sie? Welche Antwort können Sie geben, die Sie mit Ihrem Gewissen vereinbaren können?
In genau dieser Situation befinden wir uns, Berater*innen, die in Beratungsstellen mit den Schwerpunkten Antidiskriminierung, Flucht, Migration und Asyl in NRW arbeiten. Wir beraten Menschen, die rassistische und weitere Diskriminierung erfahren und sind über das ganze Bundesland verteilt. Wir wenden uns an Sie, verehrte Mitglieder der Landesregierung in NRW. Denn wir stehen vor einer unvertretbaren Aufgabe: Wir müssen Menschen erklären, dass die Ungleichbehandlung, die sie erfahren, politisch gewollt ist. Dass die Anwendung der Gesetze zu dieser rassistischen Diskriminierung führen.
Anlagen zu unserem Brief
Zu diesem Brief finden sich Anlagen. In den Anlagen zeigen wir Ihnen auf, wie sich diese rassistischen Praxen in unterschiedlichen Lebensbereichen fliehender und geflüchteter Menschen auswirken. Dabei beziehen wir uns auf juristische, institutionelle und individuelle Handlungspraxen, mit denen wir in den Beratungsstellen, in unserem Berufsalltag kämpfen.
Sie betreffen den Umgang mit Menschen auf der Flucht, bei ihrer Ankunft in Deutschland, ihrer Unterbringung, ihren Zugängen zu Arbeit und Bildung und im Alltag. (Wir erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit dieser Punkte und sind dankbar für jeden Hinweis auf weitere Ungleichbehandlungen.) Das Chancen-Aufenthaltsrecht, das unlängst verabschiedet wurde, möchte zwar die Kettenduldung abschaffen, aber es behebt die grundsätzliche Ungleichbehandlung von geflüchteten Menschen nicht. Zudem enthält es sogar Verschärfungen im Ausweisungs- und Abschiebungshaftrecht. Dies verurteilen wir aufs Schärfste.
Ungleichbehandlung zeigt sich im Vergleich
Die Ungleichbehandlung, die wir anprangern, zeigt sich in unserem Beratungsalltag vor allem, wenn wir den Umgang mit ukrainischen Geflüchteten im Vergleich zum Umgang mit anderen Geflüchteten beobachten: mit Drittstaatangehörigen, insbesondere Schwarzen Studierenden, die aus der Ukraine fliehen; mit Menschen of Color, insbesondere solche, die muslimisch gelesen werden und 2015 aus Syrien und 2021 aus Afghanistan flohen; mit Schwarzen und muslimisch gelesenen Menschen, die aus unterschiedlichen afrikanischen Ländern nach Europa flohen und fliehen, so sie es denn überhaupt nach Deutschland schaffen und nicht bereits unterwegs durch illegale Abschreckungs- und Rückdrängungsmaßnahmen der EU daran gehindert wurden und werden. – Es ist kein Zufall, dass es sich bei denen, die besser behandelt werden, um Menschen handelt, die weiß und christlich gelesen werden und bei denen, die schlechter behandelt werden, um Menschen, die Schwarz und/oder muslimisch gelesen oder anders rassifiziert werden.
Rassismus hat eine Jahrhunderte währende Geschichte, deren Kontinuitäten sich in diesem politischen und gesellschaftlichen Handeln zeigen. Dies zu benennen ist uns ein wichtiges Anliegen. Denn derzeit werden Menschen, die von anti-Schwarzem Rassismus und anti-muslimischem Rassismus betroffen sind, systematisch die gleichen Rechte verwehrt. Das ist struktureller Rassismus. Und das muss strukturell abgebaut werden.
Umgang mit ukrainischen Geflüchteten als Paradigma
Ukrainischen Staatsangehörigen wird der volle Schutz für Kriegsflüchtlinge gewährt, womit der vereinfachte Zugang zu Integrationsmaßnahmen, zur Arbeitsaufnahme, zu Schulen und Universitäten einhergeht. Und das ist gut und richtig so. Deutschland zeigt im Umgang mit ukrainischen Geflüchteten, was es kann. Politik zeigt, was sie kann. Dieser Umgang muss als Paradigma gelten, wie wir mit allen fliehenden und geflüchteten Menschen umgehen könnten und müssen. Ja, müssen. Dazu verpflichtet uns die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, das Recht auf Asyl und am Ende schlicht unsere eigene Menschlichkeit.
Wir fordern Sie auf, den politischen Diskurs und Migrationspolitiken im Sinne einer menschenrechtspolitischen Haltung mitzugestalten, indem Sie zu den Ungerechtigkeiten der Ungleichbehandlung von geflüchteten Menschen sprechen und sich öffentlich dagegen positionieren. Wir brauchen Ihren politischen Willen für Veränderung, für die Beendigung rassistischer Praxen und für die Einhaltung von Menschenrechten.
Schließlich wird dies nicht die letzte Fluchtbewegung gewesen sein. Um in Zukunft die Ungleichbehandlung nicht fortzusetzen und die Menschenrechte rassismusärmer einzuhalten, müssen wir jetzt einen menschenwürdigen Umgang mit allen fliehenden und geflüchteten Menschen finden und etablieren.
Was wir mit diesem Offenen Brief erreichen wollen
Wir möchten, dass die Ungleichbehandlung sichtbar wird, dass sie abgebaut und ein Verständnis für den ihr zugrundeliegenden Rassismus aufgebaut wird. Denn auch das verstehen wir als Antidiskriminierungs-Beratungsstellen als Teil unseres (Bildungs-) Auftrags.
Die Macht zur Veränderung einiger der in den Anlagen zu diesem Brief detailliert aufgeführten Missstände liegt in Ihren Händen, weil sie auf Landesebene entschieden werden können. Andere nicht. Uns ist dennoch wichtig, diese Punkte zu benennen, weil sie sich direkt auf unsere Arbeit auswirken, die wir in NRW leisten und auch, um ein Gesamtbild der Problemlage zu zeichnen. Wir fordern Sie dazu auf, sich in Ihrem politischen Handeln dafür einzusetzen, dass auch auf EU-, Bundes- und kommunaler Ebene ein dringend nötiger Wandel eingeleitet wird. Bitte führen Sie innerparteilich und die politischen Ebenen übergreifend Gespräche. Setzen Sie das Thema Ungleichbehandlung fliehender und geflüchteter Menschen auf die Agenda!
Für uns Berater*innen ist der aktuelle Zustand oft kaum auszuhalten. Es ist ungemein schwierig, einen solchen Brief zu schreiben und angesichts der massiven Ungleichbehandlung unserer Klient*innen nicht polemisch zu werden. Wir bitten und erwarten, dass Sie sich mit aller Kraft für die Abschaffung rassistischer Praxen einsetzen. Bitte stellen Sie sich die Frage: Was möchten Sie als Berater*in antworten können, damit Sie ruhig schlafen können?
Wenn Sie Rück- oder Verständnisfragen zu unserem Brief und seinen Anlagen haben sollten, würden wir uns sehr freuen, mit Ihnen darüber ins Gespräch zu kommen.
Selda İlter-Şirin, Münevver Toktas, Clara Petersen, Gema Rodríguez Díaz & Gülgün Teyhani
stellvertretend für Antidiskriminierungs-Berater*innen aus den folgenden Organisationen:
Die folgenden Menschen und Organisationen stehen an unserer Seite, problematisieren die in unserem Brief formulierten Missstände und fordern mit uns gemeinsam die Beendigung rassistischer Ungleichbehandlung von fliehenden und geflüchteten Menschen.
Nach und nach schließen sich immer mehr Menschen dem Brief und seinen Forderungen an. Weiter unten auf dieser Seite können auch Sie den Brief mitzeichnen. Bitte lesen Sie zunächst auch die Anlagen! - Bisher unterstützen diesen Brief auch:
Bereits auf der Flucht werden Menschen qua Herkunft und Aussehen unterschiedlich behandelt. Dies ist kein neues Phänomen, das sich an der Ungleichbehandlung von nicht-weißen Fliehenden aus der Ukraine zeigt, sondern die Kontinuität eines Umgangs mit Schwarzen Menschen und Menschen of Color, der sich bereits bei den letzten Fluchtbewegungen massiv zeigte – durch den Vergleich mit dem jetzigen Umgang mit ukrainischen Geflüchteten fällt diese rassistische Ungleichbehandlung aber besonders auf.
Etliche Antdiskriminierungs-Beratungsstellen werden von einer Vielzahl von Geflüchteten aus der Ukraine aufgesucht. Bei den Betroffenen handelt es sich überwiegend um afrikanische Studierende aus der Ukraine. Sie flohen mit rechtmäßigem Aufenthalt vor demselben Krieg wie ukrainische Staatsangehörige und sollten in gleichem Maße wie ukrainische Staatsangehörige als Kriegsflüchtlinge behandelt werden.
Im Vergleich der Unterbringung bzw. Wohnsituation von ukrainischen Geflüchteten und allen anderen Geflüchteten, zeigt sich erneut, wie nicht-weiß und nicht-christlich gelesene Menschen benachteiligt behandelt werden. Die Unterbringung von Ukrainer*innen erfolgt häufig durch privates Engagement von einzelnen Bürger*innen – im Asylverfahren ist dies gar nicht erst möglich, denn Menschen im Asylverfahren müssen in Landesunterkünften leben.
Während für Ukrainer*innen das Sozialgesetzbuch II (SGB II) und das SGB XII Anwendung finden, werden alle anderen Geflüchteten nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) behandelt. Daraus ergeben sich eine Reihe von Ungleichbehandlungen bezüglich Sozial- und Gesundheitsleistungen. Zum Beispiel bekommen Menschen, die unter das AsylbLG fallen, bei Unterbringung in Landesunterkünften 147,00 € in bar und ansonsten hauptsächlich Sachleistungen. Während für Menschen mit ukrainischem Pass seit 1. Juni 2022 ein Anspruch auf Sozialleistungen in Höhe von 449,00 € pro Person [808,00 € für (Ehe-)Paare] und Anspruch auf weitere Leistungen vom Jobcenter bzw. Sozialamt besteht.
Das Recht auf Bildung ist bereits seit 1948 in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) enthalten und wurde seither immer weiter ausdifferenziert. Es gilt als Schlüssel für den Zugang zu weiteren Menschenrechten. Denn Bildung ist eine wichtige Voraussetzung für die aktive politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Teilhabe an Gesellschaft. Das Menschenrecht auf Bildung ist die Grundlage dafür, dass Menschen ihre Rechte kennen und aktiv ausüben oder einfordern können. Derzeit werden geflüchteten Kindern und jungen Menschen, die nicht aus der Ukraine geflüchtet sind, diese Bildungschancen systematisch verwehrt.
Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist eine grundlegende Voraussetzung für erwachsene Menschen, um finanziell unabhängig zu werden und sich eine Zukunft aufbauen zu können. Zu arbeiten kann dazu führen, sich selbstbewusst wahrzunehmen. Während Geflüchteten mit ukrainischem Pass der Zugang durch Anerkennung ihres Status, ihrer Zeugnisse und sogar noch nicht vorhandener Zeugnisse erleichtert wird, wird er anderen Menschen erschwert und verwehrt.
Auch im Alltag machen geflüchtete Menschen sehr unterschiedliche Erfahrungen in Deutschland. Auch hier zeigt sich die systematische Ungleichbehandlung sehr praktisch in der Benachteiligung einiger, z.B. bei Bereitstellung von Informationen in bestimmten Sprachen, der Eröffnung eines Bankkontos, der Anerkennung von Führerscheinen oder bei Stellenausschreibungen.
Politiker*innen haben maßgeblichen Einfluss auf die Entwicklung von gesellschaftlichen Diskursen. Von Politiker*innen gehen Impulse aus, werden sprachliche Rahmen des „Sagbaren“ geschaffen und Grenzen gesetzt. Aus unserer Sicht stehen Sie mit in der Verantwortung eine Vorbildfunktion einzunehmen, insbesondere wenn es um die Einhaltung und Verteidigung von Menschenrechten geht.
Laden Sie sich das Social-Media-Kit herunter, in dem Sie Grafiken finden, die Sie auf Facebook, Instagram oder anderen Plattformen teilen können. Textvorschläge, Hashtags und Verlinkungen finden Sie ebenfalls in dem Kit.
Oder: Teilen Sie diese Website per Mail oder Messenger-Dienste.
Vielen Dank!
Wenn Sie die in unserem Brief beschriebenen Missstände ebenfalls problematisieren und mit uns fordern möchten, dass die rassistsiche Ungleichbehandlung endet, unterzeichnen auch Sie diesen Brief.
Wenn Sie uns etwas mitteilen möchten oder uns auf weitere Formen der Ungleichbehandlung aufmerksam machen möchten, können Sie mit Ihrer Unterschrift gerne eine Nachricht an uns senden.
Wir bitten Sie um Verständnis, das es einige Tage dauern kann, bis Ihre Unterschrift auf der Website erscheint.
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